Berlin ein Modell für den Kampf gegen Kinderarmut?

Interview mit Regine Schefels

Leiterin des Referats Familienpolitik und Familienförderung der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie

Berlin ein Modell für den Kampf gegen Kinderarmut?

Zur Bekämpfung der Kinderarmut gibt es seit 2017 die ressortübergreifende Landeskommission Kinder- und Familienarmut. Sie soll dafür sorgen, dass bestehende Angebote in den Bezirken miteinander verknüpft und ausgebaut werden. Nur eine weitere Kommission oder tatsächlich eine Chance für Kinder auf nachhaltige Entwicklungsförderung?

Die nachfolgenden Fragen des Deutschen Kinderbulletin (DKB) beantwortet Frau Regine Schefels, Leiterin des Referats Familienpolitik und Familienförderung der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (LK Armut).

DKB: Die Kinderarmut ist in Berlin in den vergangenen Jahren stark angestiegen, wie dramatisch ist die Situation?

LK Armut: Wenn wir von Kinderarmut sprechen, geht es in der Regel um relative Einkommensarmut des Haushalts, in dem Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren leben. Die Armutsgefährdungsquote[1] unter 18-Jähriger betrug nach vorläufigen Daten des Mikrozensus in Berlin im Jahr 2021 23,3 Prozent. Damit liegt sie insgesamt auf einem hohen Niveau und ist auch höher als der bundesweite Durchschnitt. Auch wenn wir beobachten können, dass in den letzten Jahren ein leichter Rückgang zu beobachten ist, sieht das Land Berlin die dringende Notwendigkeit, die Lage von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Die Herausforderungen sind vielfältig, wenn wir an die Vielzahl an Armutsfolgen denken, die Kinder und Jugendliche erfahren. Deshalb hat der Senat eine Landeskommission zur Prävention von Kinder- und Familienarmut eingesetzt, mit dem Auftrag, eine gesamtstädtische Strategie zu entwickeln. Anstelle von Einzelprogrammen oder akutem Handeln vor Ort, soll eine strategische Grundlage für ein langfristig ausgerichtetes Handeln zielgenauer auf Kinderarmut im Land Berlin einwirken.

Mit dem Beschluss der Berliner Strategie gegen Kinderarmut hat der Senat 2020 deutlich gemacht, dass Armutsprävention als ein konkreter Auftrag für die weitere Angebotsgestaltung ressortübergreifend im Land und vor Ort verstanden wird. Die Umsetzung der gesamtstädtisch angelegten Strategie wird durch eine Vielzahl an Akteuren in allen Bereichen kontinuierlich begleitet.

DKB: Wir reden bei Kinderarmut oftmals nur über Geldarmut, aber zumindest für die frühkindliche Entwicklung als Grundvoraussetzung für die Schul-, Bildungs- und Sozialprognose sind Bildungsferne und elterliche Anregungsarmut das größere Problem. Es betrifft insbesondere Familien des untersten Quintils des Sozioökonomischen Quotienten. Was vermag hier die Kommission zu tun?

LK Armut: Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche sind durch zahlreiche Studien aus unterschiedlichen Bereichen wissenschaftlich belegt. So wissen wir um die Auswirkungen und Benachteiligungen in den Bereichen Bildung, Teilhabe und Gesundheit. Deshalb hat die Berliner Landeskommission zur Prävention von Kinder- und Familienarmut von Beginn an einen Blick auf alle diese Handlungsbereiche gelegt. Sie hat ein Zielesystem entwickelt, das sich auf die genannten Handlungsfelder erstreckt und aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen deutlich macht, welche Zielstellung erreicht werden soll, um Armutsfolgen zu verringern. Die materielle Versorgung von Familien darf dabei nicht aus dem Blick geraten, denn Kinderarmut ist zumeist Folge von Familienarmut. Auch in diesem Bereich ist das Land Berlin aktiv, um Zugänge zu Leistungen zu vereinfachen. Zudem setzt sich das Land für eine bedarfsgerechte Leistung für Kinder ein, die ihr Existenzminimum sichert. Im Vordergrund der Möglichkeiten, die Lage der Berliner Kinder und Jugendlichen zu verbessern, steht jedoch das Ziel, eine passgenaue Infrastruktur vor Ort anbieten zu können. Dafür existieren im Land Berlin bereits viele gute Voraussetzungen und vielfältige Angebote. Was allerdings noch deutlich besser werden kann, ist die Verknüpfung von Angebotsstrukturen und ein integriertes Planen und Handeln. Ziel der Berliner Strategie gegen Kinderarmut ist es daher, in den einzelnen Handlungsbereichen zu prüfen, wie Zugänge erleichtert und wie Angebote ressortübergreifend besser vernetzt und zielgruppengerechter gestaltet werden können. Wir wollen dazu auch die Armutssensibilität und die Wirkungsorientierung stärken, denn es geht uns vor allem darum, besser jene Familien anzusprechen, in denen armutsgefährdete Kinder und Jugendliche aufwachsen.

DKB: Was ist bisher passiert? Zum Beispiel?

LK Armut: Bei der Konzeption neuer Vorhaben arbeiten die Bereiche Armutsprävention und Familienförderung in der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie eng zusammen. Damit wollen wir erreichen, dass Angebote armutssensibel gestaltet werden und wir die Zielgruppe noch besser adressieren. Als Beispiel kann hier das Modellprojekt Familienzentren an Grundschulen genannt werden, das mit Mitteln aus dem Gipfel gegen Jugendgewalt in 2023 gestartet ist. Zu Konzept und möglicher Begleitforschung ist die Geschäftsstelle der Landeskommission eng eingebunden gewesen. Darüber hinaus werden in einer Arbeitsgruppe der Landeskommission ganz konkret Zugangshemmnisse für armutsbetroffene Familien beleuchtet. Für Fachkräfte wird eine Checkliste entwickelt, wie Angebote armutssensibel und niedrigschwellig konzipiert werden. Zahlreiche Maßnahmen aus dem Bereich der Familienbildung, wie das Landesprogramm Stadtteilmütter oder das Landesprogramm Familienzentren wirken auf eine verbesserte Teilhabe, gute Bildungschancen und eine Unterstützung in Erziehungsfragen hin. In beiden Programmen wird darauf abgezielt, niedrigschwellige Zugänge bereitzustellen, damit insbesondere Familien in Armutslagen die Angebote nutzen können. Über das neue digitale Format ElternMail erhalten Familien einfach Unterstützung bei der Erziehung ihres Kindes. Das Berliner Familienportal informiert darüber hinaus zu Angeboten und Leistungen; die Familienservicebüros in den Bezirken unterstützen Eltern bei der Beantragung von Leistungen und bieten eine sozialpädagogische Beratung an. Neben den Landesprogrammen richten sich ebenso die Angebote vor Ort, in den Berliner Bezirken, stärker darauf aus, armutsbelastete Familien gezielt anzusprechen. Dazu arbeitet eine Koordinierungskraft im Bezirk an der Vernetzung der Akteure und an einer stärkeren Wirkungsorientierung.

DKB: Covid-19 hat die Kluft zwischen armen und reichen Familien vergrößert, nun muss die Regierung wegen der Schuldenbremse Geld sparen. Wahrscheinlich auf Kosten des Sozialen. Welche Stärkungs- und Entlastungsstrukturen sind dadurch bedroht?

LK Armut: Der Berliner Senat hat in den vergangenen Jahren viel in den Bereich der Familienbildung, in den Kita-Ausbau, in kostenfreie Angebote für Familien und in die Infrastruktur des Landes investiert. Zuletzt sind über die Maßnahmen gegen Jugendgewalt weitere Angebote initiiert oder verstärkt worden. Für 2023 wurden hierfür Mittel in Höhe von 18,4 Mio. Euro bereitgestellt. Für 2024 wurden Mittel in Höhe von 44,1 Mio. Euro sowie für 2025 44,2 Mio. Euro im Haushalt veranschlagt. Zu den Vorhaben zählen der Ausbau der Kita-Sozialarbeit ebenso wie die zusätzliche Qualifizierung von Stadtteilmüttern, ein Ausbau an Angeboten für Väter und zahlreiche Maßnahmen im Bereich der Jugendarbeit. Trotz enger werdender finanzieller Ressourcen investiert das Land Berlin stark im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit. So wird auf Grundlage des Berliner Familienfördergesetzes kontinuierlich das Angebot der Familienbildung in den Bezirken ausgebaut. Mit zusätzlichen Mitteln für die frühkindliche Bildung und einem guten Angebot bei der Kitaplatzversorgung sowie im Ganztag sichert das Land Berlin die Teilhabe und frühe Bildung von Kindern und entlastet Familien deutlich bei den Kosten.

DKB: Ist Berlin ein Sonderfall oder sehen wir hier, was sich auch in anderen Großstädten abspielt?

LK Armut: Armut ist in den größten deutschen Städten stärker verbreitet als im Bundesdurchschnitt. Die Bertelsmann Stiftung und das Deutsche Institut für Urbanistik haben dazu Erkenntnisse zusammengestellt und empfehlen zur Verringerung eine enge Zusammenarbeit zwischen Bund, Land und Kommune im Sinne der Integrierten Strategien, wie auch das Land Berlin sie verfolgt. Im Vergleich zu anderen bundesdeutschen Großstädten befindet sich Berlin in Bezug auf die Armutsgefährdungsquote eher im unteren Drittel. In Bremen, Duisburg und Dortmund ist die Armutsgefährdung deutlich höher, wie ein Vergleich aus 2020 zeigt[2]

DKB: Was können wir vom Beispiel Berlin übernehmen?

LK Armut: Um Kinder- und Jugendarmut langfristig reduzieren zu können, braucht es eine nachhaltig angelegte Strategie in der das Zusammenwirken aller beteiligten Akteure im Handlungsbereich definiert ist. Entscheidend ist ein durchgängiges integriertes Planen und Handeln, im Sinne der bereits etablierten Präventionsketten aus dem Gesundheitsbereich. Zugleich ist es notwendig, die Armutssensibilität auf allen Ebenen in Einrichtungen, Verwaltungen und in der Politik zu stärken. Armutsprävention in der Kommune und im Land bedeutet in erster Linie die Folgen von Armut für Kinder und Jugendliche deutlich zu machen und sie zu reduzieren. Dafür müssen gegebenenfalls Ressourcen umgesteuert und dorthin verteilt werden, wo sie besonders nötig sind. Maßnahmen müssen regelmäßig auf ihre armutsreduzierende Wirkung hin überprüft werden. Damit sind grob die fünf strategischen Leitlinien umrissen, die die Berliner Strategie gegen Kinderarmut ausmachen und die das zukünftige Handeln leiten werden. In die Ausgestaltung dieses Rahmens war die wissenschaftliche Begleitung der Landeskommission zur Prävention von Kinder- und Familienarmut eng eingebunden. Wichtig ist die Erkenntnis, dass es für ein effektives Handeln einen eindeutigen strategisch orientierten Rahmen bedarf, der das Zusammenwirken der Akteure auf den unterschiedlichen Ebenen und in allen betroffenen Handlungsfeldern bestimmt.

DKB: Was können nach Meinung der Kommission die Gründe dafür sein, dass seit Einführung der Schuleingangsuntersuchungen Kinder aus Familien des unteren sozioökonomischen Quotienten gleichbleibende, teilweise um ein Vielfaches schlechtere Ergebnisse in der sprachlichen, kognitiven und verhaltensbezogenen Entwicklung aufweisen? Und das trotz einer starken Zunahme ergo- und logopädischer Therapien?  Dieses Phänomen betrifft nicht nur Berlin, sondern alle Bundesländer.

LK Armut: Wir nehmen wahr, dass Berliner Kinder aus armutsbelasteten Familien stärker Benachteiligungen in ihrer Entwicklung und ihrer Gesundheit aufweisen. In der Folge hat sich das Land Berlin zum Ziel gesetzt, über Angebote der Familienbildung und einen möglichst mehrjährigen Kitabesuch solche Nachteile zu verringern. Über die Stadtteilmütter sprechen wir Familien mit Migrations- oder Fluchtgeschichte an, informieren sie zu Themen rund um Entwicklung, Gesundheit und Erziehung eines Kindes und begleiten sie bei der Suche nach einem passenden Kitaplatz. Ebenso sind Angebote in Familienzentren oder andere aufsuchende Angebote ausgerichtet. Mit dem Berliner Bildungsprogramm und dem Landesprogramm Gute gesunde Kita setzen wir entsprechende Rahmenbedingungen für die Förderung im frühkindlichen Bereich. Um eine Trendwende bei den basalen Bildungskompetenzen zu erreichen, hat die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie eine umfassende Qualitätsstrategie definiert, die alle Bildungsbereiche, von der Familie bis in die Berufsbildung umfasst. Beabsichtigt ist, in allen Bereichen konkrete Maßnahmen zu ergreifen und miteinander zu verschränken, die auf eine gezielte Förderung von benachteiligten Kindern wirken.

DKB: Wie steht die Kommission zur Schulpflicht ab 3 Jahren (wie in Frankreich) bzw. einer Kita-Pflicht ab 3 Jahren?

LK Armut: Eine vorgezogene Schulpflicht ist derzeit im Land Berlin nicht in der Diskussion. Das Land Berlin hat eine umfassende und stabile Grundlage in der frühkindlichen Bildung aufgebaut, die kontinuierlich ausgebaut und an Herausforderungen angepasst wird. Denn Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr haben einen Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Mit dem Kita-Chancenjahr hat die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie ein Vorhaben initiiert, dass noch stärker auf die Teilhabe aller Kindern an frühkindlicher Bildung abzielt. Ziel ist, Familien den Zugang zum Kita-Platz zu erleichtern und Kinder noch gezielter fördern zu können.

DKB: Wie hoch schätzt die Kommission den Mangel an Kita- bzw. U3-Kita-Plätzen in Berlin ein?

LK Armut: Der Ausbau an Kindertagesbetreuungsplätzen ist seit vielen Jahren ein politischer Schwerpunkt des Landes Berlin. Durch das Bundesprogramm Kinderbetreuungsfinanzierung“ seit 2008 und das Landesprogramm Auf die Plätze, Kitas los“ seit 2012 wurden mehrere tausende Kita-Plätze geschaffen bzw. erhalten. Der intensive Kitaplatzausbau der vergangenen Jahre hat zu einer deutlichen Verbesserung der Angebotssituation geführt. Im Ergebnis werden immer mehr Kinder in Berlin bereits ab den ersten Lebensjahren in Kitas oder in Kindertagespflege gefördert und profitieren somit frühzeitig von qualitativ hochwertiger Bildung und Betreuung, vor allem in der Altersstufe der unter 3-jährigen Kinder werden Betreuungsquoten erreicht, die mit 47,6 Prozent ca. 11 Prozentpunkte, und damit deutlich über dem Bundesdurchschnitt (36,4 Prozent) liegen. Noch ist der Bedarf in einer wachsenden Stadt wie Berlin nicht gedeckt. Insofern wird der Kitaausbau in Berlin fortgeführt. Bis zum Jahr 2027 sind rund 11.000 zusätzliche Kitaplätze bereits in Bau bzw. in Planung. Es zeigt sich mittlerweile im Durchschnitt eine deutliche Entspannung bei der Versorgung mit Kita-Plätzen im Land Berlin.

DKB: Wir danken herzlich für die Beantwortung unserer Fragen

 

 


[1] Die Armutsgefährdungsquote ist folgendermaßen definiert: Anteil der Personen mit einem Äquivalenzeinkommen von weniger als 60 % des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung in Privathaushalten am Ort der Hauptwohnung (Bundesmaßstab). Das Äquivalenzeinkommen wird auf Basis der neuen OECD-Skala berechnet.

[2] Armutslagen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Expertise des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. für die Landeskommission zur Prävention von Kinder und Familienarmut. S. 18, Abbildung 5 „Armutsgefährdungsquoten (Bundesmedian) in ausgewählten deutschen Großstädten“. https://www.berlin.de/sen/jugend/jugend-und-familienpolitik/kinder-und-familienarmut/

[Abruf 16.01.2024]

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