Warum ungünstige psychosoziale Lebensbedingungen die Entwicklung von Kindern hemmen

von Hans G. Schlack

Sozialepidemiologische Untersuchungen in Deutschland und in anderen Ländern mit vergleichbarer soziokultureller Struktur zeigen, dass Kinder aus der unteren Sozialschicht ein hochsignifikant erhöhtes Risiko für niedrigere Schul- und Berufsabschlüsse, höhere Häufigkeiten seelischer und körperlicher Gesundheitsstörungen und schlechtere soziale Integration haben. Für dieses Phänomen gibt es verschiedene Erklärungsansätze, die sich auf empirische Belege stützen können. Keine dieser Erklärungen kann Allgemeingültigkeit beanspruchen, zumal die Konstellation ungünstiger Bedingungen in jedem Einzelfall anders ist und monokausale Entstehungsbedingungen grundsätzlich unwahrscheinlich sind. Auch ist eine günstige Entwicklung von Kindern trotz massiver psychosozialer Risikobelastung durchaus möglich, wenn auch eher selten. Trotzdem gibt es eine Evidenz für die entwicklungshemmende Wirkung von Folgen bestimmter Lebensumstände, die im Folgenden als „Faktoren“ zusammengefasst werden. Die Beachtung dieser Faktoren verbessert das Verständnis und eröffnet Wege zu gezielter Intervention.

Die Auswirkungen ungünstiger sozioökonomischer Bedingungen auf die Familie lassen sich unter dem Begriff „sozialer Stress“ zusammenfassen. Damit wird insbesondere die subjektive Bewertung der Situation durch die Betroffenen charakterisiert. Bedingungen, die zu sozialem Stress führen, sind hauptsächlich Armut, Arbeitslosigkeit, chronische Krankheit, eingeschränkte Problembewältigung in kritischen Lebenslagen, geringe Bildung und geringe schulische/berufliche Qualifikation, fehlender Rückhalt in der Familie oder in einem anderen sozialen Netzwerk, unerwünschte Schwangerschaft und unvollständige Familie/Alleinerziehung. Sozialer Stress ist für Kinder, die in betroffenen Familien aufwachsen, mit einem erhöhten Risiko ungünstiger Entwicklungsbedingungen verbunden:

Faktor 1: Elterliche (insbesondere mütterliche) Depressivität. Chronische Belastungen und fehlende Aussicht auf positive Veränderungen können zu anhaltenden depressiven Verstimmungen auch ohne entsprechende primäre Disposition führen. Mütter sind unter solchen Bedingungen kaum oder nicht in der Lage, die essentiellen psychischen Bedürfnisse ihres Kindes insbesondere in der frühen Kindheit zu erfüllen. Dieses Defizit kann noch vergrößert werden, wenn depressiven Müttern Psychopharmaka mit sedierender Nebenwirkung verordnet und diese Medikamente missbräuchlich eingenommen werden. Entsprechendes gilt für missbräuchlichen Alkohol- und Drogenkonsum.

Faktor 2: Veränderung des Familienklimas. Als Folge von Armut und damit verbundenen Einschränkungen wurde eine Tendenz zur Veränderung des Familienklimas mit einer Zunahme von autoritären, restriktiven und strafenden Erziehungsweisen beschrieben.

Faktor 3: Unsichere Bindung und Bindungsstörungen. Die Faktoren 1 und 2 wirken sich gemeinsam aus in einer Gefährdung des Bindungsprozesses. Eine sichere Bindung ist die Grundlage der seelischen Gesundheit des Kindes; sichere, unsichere und gestörte Bindungsmuster im Kindesaltersetzen zeigen eine große Kontinuität und bestimmen noch im Erwachsenenalter maßgeblich das Sozialverhalten innerhalb und außerhalb der Familie. Lebensbedingungen, die zur Verunsicherung oder Störung des Bindungsprozesses führen, sind schwerwiegende Risiken für die seelische Gesundheit. Sie haben beim Kind vermehrte Ängste, eingeschränkte Lernbereitschaft, soziale Anpassungsstörungen, depressive oder aggressive Verhaltensweisen zur Folge. Die Konsequenzen sind ein mangelhaftes Ausschöpfen des individuell gegebenen Entwicklungspotenzials und letztlich ein häufigeres Scheitern an Entwicklungsaufgaben.

Faktor 4: Eingeschränkte Teilhabe.  Mit dem Wohlstand einer Gesellschaft steigen in der Regel nicht nur die Lebenshaltungskosten, sondern auch die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich, so dass die Teilhabemöglichkeiten der armen Bevölkerung auch bei allgemein günstigem Wohlstandsniveau erheblich beeinträchtigt sind. Im Vergleich zu Kindern aus Familien mit höherem sozioökonomischem Status unternehmen arme Kinder seltener etwas zusammen mit ihren Eltern, haben weniger Zugang zu kulturellen Angeboten, die etwas kosten (z.B. Musikunterricht, Sportvereine), sie wohnen in ungünstigen Umgebungen und schlechteren Wohnungen, haben weniger stützende Peer-Kontakte und können nur in geringem Umfang die Erfahrung von Selbstwirksamkeit machen. Solche Nachteile zu kompensieren gelingt nur Kindern mit einer stabilen psychischen Gesundheit, die zu erwerben unter Bedingungen von chronischem sozialem Stress allerdings erheblich erschwert ist. Auf diese Weise manifestieren sich bei Kindern, die unter den Bedingungen von Armut aufwachsen, bereits im Kleinkind- und Vorschulalter Erfahrungsdefizite, die in vielen Fällen noch zusätzlich durch subtile oder offene soziale Ausgrenzung verstärkt werden.

Faktor 5: Einseitige Anregungen.  Erfahrungsdefizite durch eingeschränkte Erlebnismöglichkeiten werden noch massiv verstärkt durch die Einseitigkeit der Anregungen, die sich für viele Kinder auf den Konsum von Fernsehsendungen über einen großen Teil des Tages beschränken. Damit verbunden sind eine gravierende Reduktion von sonstigen Interessen und Eigeninitiative, sprachlicher Interaktion und körperlicher Aktivität sowie eine Zunahme von Übergewicht/Adipositas mit vielfältigen gesundheitlichen Folgeproblemen.

Faktor 6: Geringere Inanspruchnahme der Gesundheitsvorsorge im somatischen Bereich.  Kinder sind bei der Inanspruchnahme von präventiven und therapeutischen Maßnahmen von der Initiative ihrer sorgeberechtigten Bezugspersonen abhängig. Die geringere Teilnahme von Kindern aus der unteren Sozialschicht an den Früherkennungsuntersuchungen jenseits des 1. Lebensjahres ist ein Hinweis auf Schlechterstellung in diesem Bereich. Eine Reihe akuter und chronischer Erkrankungen zeigt eine Häufung in der unteren Sozialschicht, woraus sich zusätzliche Risiken für die gesamte Entwicklung und eine erfolgreiche soziale Eingliederung ergeben.

Faktor 7: Reproduktion des Problems über Generationsgrenzen hinweg. Es besteht ein hohes Risiko, dass Bildungsferne, schlechte schulische bzw. berufliche Qualifikation, daraus resultierende Armut und niedrige Sozialschicht einen Circulus vitiosus bilden, der sich in der nächsten Generation wiederholt. Das führt u.a. dazu, dass junge Eltern auf Grund defizitärer Erfahrungen in der eigenen Kindheit (vgl. Faktor 1 und 2) keine hinlängliche Vorstellung von den Grundbedürfnissen ihrer eigenen Kinder haben und dadurch die Defizite reproduzieren.

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