„Jedem Kind eine Chance -
Nachhaltige Entwicklungsförderung jetzt!“ 

Benachteiligte Kinder in Deutschland

Kinder und Jugendliche stehen bei politischen Entscheidungen überwiegend nicht im Fokus. Ihre Interessen und Bedürfnisse werden höchstens am Rande bedacht – oder gar nicht. Der Wirrwarr um den Umgang mit den Kindern und Jugendlichen im Laufe der Corona-Pandemie hat dies erneut deutlich bewiesen. 

Besonders leiden unter dem politischen Desinteresse Kinder aus sozial schwachen und dabei zumeist bildungsfernen Familien, also etwa 20 Prozent aller Kinder eines Geburtsjahrganges. Diese Kinder haben in der Regel von Anfang an deutlich schlechtere Chancen auf eine gute Schul-, Ausbildungs- und Berufsperspektive als Kinder, die in einem besser situierten Umfeld aufwachsen. Untersuchungen zeigen, dass es in Familien des unteren sozialen Status (Einkommensarmut und Bildungsferne) häufig daran fehlt, auf die entwicklungsstimulierenden Bedürfnisse ihrer Kinder einzugehen. Da solche frühkindlichen Entwicklungsanregungen aber unabdingbar für eine altersgerechte Entwicklung sind, kommt es dazu, dass die betroffenen Kinder bereits zum Schuleintritt im Vergleich zu anderen Kindern keine ausreichende Entfaltung u.a. der Sprach- und kognitiven Entwicklung, des Sozialverhaltens und der allgemein intellektuellen Entwicklung haben. Wir sprechen von soziogenen Entwicklungsstörungen. Diese Entwicklungsstörungen beeinträchtigen nachhaltig das gesamte weitere Leben. Heute wissen wir, dass diese Entwicklungsstörungen dadurch verhindert werden könnten, wenn von frühester Kindheit an die mangelnde innerfamiliäre Entwicklungsanregung außerhalb der Familie - in entsprechenden Strukturen - kompensiert würde.      

Seit Einführung der Einschuluntersuchungen und der Ergebnissortierung nach sozialer Schichtung hat sich in den letzten ca. 20 Jahren an der benachteiligenden Situation der Kinder aus Familien des unteren SES nichts geändert, sie zeigen konstant die gleichen schlechten Ergebnisse vor allem der kognitiven und sprachlichen Entwicklung. Offenbar ist das gegenwärtige Hilfe- und Unterstützungssystem – trotz ihres spürbaren Ausbaus in den vergangenen Jahren - nicht in der Lage, die betroffenen Kinder zu erreichen.

So besteht nach wie vor bei Schuleintritt eine tiefe Kluft zwischen Kindern, die gut gefördert werden, und denen, die weder familiär noch institutionell eine Chance auf eine angemessene Förderung hatten.

Die Benachteiligungsspirale setzt sich während der gesamten Schulzeit fort: Mit den aktuellen Lehr- und Lernsystemen gelingt es nicht, die benachteiligten Kinder in gleichem Maße zu höheren Schulabschlüssen und Ausbildungen zu führen wie gut geförderte Kinder. Die möglichen Folgen: Schulabbrüche (ca. 25% der betroffenen Kinder erlangt keinen Hauptschulabschluss), früh einsetzende Arbeitslosigkeit, Delinquenz, Abhängigkeit von Nikotin, Alkohol und andere Drogen.
Aufwändige Förder- und Reintegrationsprogramme mit teilweise jahrelanger Begleitung sind teuer und helfen nur selten. Wir müssen daher dringend umdenken.
Hierfür bedarf es innovativer Ansätze und neuer Strukturen.
Hierfür steht das Deutsche Kinderbulletin.

Aus aktuellem Anlass

OFFENER BRIEF an die Politischen Entscheidungsträger der Bereiche Familie, Gesundheit, Bildung und Soziales

Bildungsbenachteiligte Kinder – dringend notwendige Schritte zur Beseitigung der Chancenungleichheit

Wir sind eine Gruppe von erfahrenen Expert:innen aus Wissenschaft, pädiatrischer Klinik- und Grundversorgung, weiteren Systemen der Hilfe für Kinder und Familien sowie von Wissenschaftsjournalisten. Die Aussagen im Folgenden sind wissenschaftlich belegt. Unser Fokus liegt auf einer besonders vulnerablen Gruppe: Kinder und Jugendliche, die vielfach aus bildungsbenachteiligten, einkommensschwachen Familien ohne und mit Migrations-hintergrund stammen. Diese sogenannten L-SES-Familien (Familien des unteren sozioökonomischen Status) sind überproportional häufig von sozialen und strukturellen Benachteiligungen betroffen.

Über 50.000 Kinder und Jugendliche erreichen in Deutschland jährlich keinen Hauptschulabschluss, ganz überwiegend kommen diese aus L-SES-Familien (Holtmann, Menze & Solga, 2023). Ein Großteil der betroffenen Jugendlichen kann nur mit erheblichem Aufwand durch spezielle Förderprogramme in das berufliche und gesellschaftliche Leben integriert werden (Czock & Wölbing, 2011). Trotz dieser Maßnahmen führt dies häufig zu gesellschaftlichem Ausschluss, zudem haben diese Kinder und Jugendlichen meist einen schlechteren Gesundheitszustand. Viele der Betroffenen haben geringere Teilhabechancen und fühlen sich infolgedessen gesellschaftlich nicht repräsentiert (Shell Jugendstudie, 2024; Greco et al., 2014). Besonders alarmierend: Jeder zweite arbeitslose Jugendliche hat entweder keinen Schulabschluss oder einen Hauptschulabschluss (Klemm, 2023).

Die Ursache dieser Nachteile hat ihren Anfang schon viel früher, in der frühen Kindheit. Sie liegt überwiegend in einer unvollkommenen frühkindlichen Entwicklung aufgrund der häufig belastenden und überfordernden Lebensverhältnisse der Eltern. Diese tragen dazu bei, dass die Eltern die Entwicklungsbedürfnisse ihrer Kinder oft nicht ausreichend wahrnehmen und ihre Kinder dem entsprechend zu wenig anregen (mangelnde Responsivität, Schlack 2020). Da dies in einer der wichtigsten menschlichen Entwicklungsphasen, der frühen Kindheit, geschieht, können sich die natürlichen Anlagen und Fähigkeiten der Kinder nicht ausreichend in ihren Zeitfenstern entfalten (Klatte, 2007; Noble et al., 2015). Spätestens bei den
Schul­eingangsuntersuchungen fallen diese Kinder durch z.T. deutliche Entwicklungs-rückstände in den Bereichen Kognition, Sprache und Verhalten auf, häufig bis hin zu ausgeprägten Entwicklungsstörungen (Lampert et al., 2010). Mithin sind diese Entwicklungsdefizite im Unterschied zu körperlich bedingten Entwicklungsstörungen sozial bedingt, wir sprechen von soziogenen Entwicklungshemmnissen bzw. -störungen.

Dadurch werden die genetisch angelegten Entwicklungspotenziale (Entwicklungsvalenzen) nur teilweise ausgeschöpft. Wird die fehlende Entwicklungsstimulation nicht ausgeglichen, passt sich das Gehirn noch vor der Pubertät an die bis dahin bestehenden Beanspruchungen an (cerebrale Plastizität) (Klatte, 2007). Dies erklärt, warum frühkindliche Entwicklungs-hemmungen nachhaltig negativ wirken und andererseits frühkindliche Entwicklungs-anregungen so effektiv und effizient sind, da mit geringeren Investitionen viel mehr erreicht werden kann als zu einem späteren Zeitpunkt (Heckman, 2006).

Auch wenn Schulen für diese Kinder und Jugendlichen verstärkt angemessene Bildungsangebote vorhalten müssen, kann schulische Bildung allein diese Defizite weder quantitativ noch qualitativ ausreichend kompensieren. Im Gegenteil, oftmals werden u.a. durch unzureichende Ressourcen und nicht passende curriculare Standards die Bildungsprobleme der betroffenen Kinder während ihrer Schulzeit noch verstärkt.

 

Fazit: Das Schicksal dieser Kinder und Jugendlichen ist nicht nur eine persönliche Tragödie mit unbefriedigender Zukunftsperspektive. Es stellt zugleich eine kinder- und menschenrechtlich unhaltbare Situation dar. Neben den individuellen Nachteilen für die Betroffenen ergeben sich auch gravierende gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Folgen: Der Gesellschaft entstehen in vielen Bereichen erhebliche Kosten und darüber hinaus immaterielle Schäden. Sie verliert nicht nur wichtige Arbeitskräfte sowie das kreative und gesellschaftsstabilisierende Potenzial einer großen Bevölkerungsgruppe mit den entsprechenden Steuereinnahmen, sondern wird auch durch erhebliche Aufwendungen für Wiedereingliederungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sowie Jugendarbeitslosigkeit belastet. Vor dem demografischen Hintergrund mit Rückgang des Erwerbstätigenpotenzials und einer weiteren Alterung der Bevölkerung kann sich Deutschland dies schon jetzt nicht und künftig erst recht nicht leisten.

In der Konsequenz führt dies letztlich nicht nur zu erheblichen Ausgaben der öffentlichen Hand und entsprechenden Mindereinnahmen, sondern gefährdet auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Die wichtigsten gesellschaftlichen Reaktionen auf das Risiko für Kinder, von soziogenen Entwicklungshemmnissen betroffen zu sein, besteht in drei Maßnahmen:

  • im frühzeitigen Erkennen und Erreichen betroffener Kinder und ihrer Eltern in belastenden Lebenslagen;
  • in der gezielten und nachhaltigen Entwicklungsanregung für diese Kinder und
  • in der Vermittlung von sozialen und edukativen Hilfsangeboten für die Eltern.

Es existieren zahlreiche kommunale und überregionale Unterstützungsangebote, die Familien nicht nur rund um die Geburt, sondern auch während der ersten Lebensjahre des Kindes unterstützen. Dazu zählen die Frühen Hilfen, Familienzentren, Interdisziplinäre Frühförderstellen, Sozialpädiatrische Zentren, Familienbildungsstätten, Jugendämter, subsidiäre Gesundheitshilfen und insbesondere Kindertageseinrichtungen. Hinzu kommen gesetzlich festgelegte Sozial- und Transferleistungen, die die Familien in prekären Lebenssituationen entlasten sollen.

Frühe Akteure beim Erkennen und Erreichen von Familien mit Unterstützungsbedarf sind neben Schwangerschaftsberatungsstellen Lotsendienste in Geburtskliniken sowie Kinder- und Jugendärzt:innen in der pädiatrischen Grundversorgung.

Eine ernüchternde Bilanz: Trotz dieser Maßnahmen bestehen die frühkindlichen Entwicklungsdefizite insbesondere bei Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien fort. Besonders besorgniserregend ist dabei, dass die Kluft sogar noch zunimmt wie die Einschulungsuntersuchungen zeigen. Woran liegt das? Werden diese Familien nicht ausreichend erreicht?

Unabhängig von der Betrachtungsweise bleibt festzustellen: Für diese Kinder, deren Chancen auf eine erfolgreiche Zukunft allein durch ihre Lebensumstände gefährdet sind, hat unsere Gesellschaft bislang nur punktuelle und kaum nachhaltige Abhilfe und kein flächendeckendes Konzept entwickelt.

 

Herausforderungen:

  1. Erreichbarkeit der betroffenen Familien
    Obwohl in nahezu allen Geburtsabteilungen Familien aus bildungs- und sozial benachteiligten Lebensverhältnissen auf kommunale und sozialräumliche Unterstützungs-systeme – insbesondere die Frühen Hilfen – hingewiesen werden, bleibt es den Familien selbst überlassen, ob sie diese Angebote wahrnehmen. Dieses sogenannte Komm-Struktur-Modell scheitert besonders häufig daran, dass die Eltern oft Schwierigkeiten haben, diese Angebote zu nutzen (mangelnde Steuerungskompetenz, Neumann/Renner 2016), oder auch Stigmatisierung befürchten. Erfolgversprechender sind hingegen aufsuchende Strukturen (sogenannte Geh-Strukturen), wie vielfach in Untersuchungen festgestellt werden konnte (z.B. SenBildJugFam, 2020).
    Obwohl es eine Reihe von Möglichkeiten gibt, Familien mit Unterstützungsbedarf durch Gesundheitsfachkräfte (Familienhebammen, Familien-Gesundheits- und Kinderkranken-pflegerinnen) aufsuchend zu erreichen, sind diese Angebote in vielen Kommunen nicht ausreichend und bedarfsdeckend vorhanden. Des Weiteren umfassen die Frühen Hilfen nur die ersten drei Lebensjahre des Kindes, so dass ein darüber hinaus bestehender Bedarf bei den Kindern nicht mit entsprechenden Angeboten ausgeglichen werden kann.
  2. Fehlende U3-Kita-Plätze
    Aktuellen Berechnungen zufolge fehlen in Deutschland rund 306.000 Kita-Plätze[1] (Geis-Thöne, 2024). Gerade für Kinder aus anregungsarmen Familien sind U3-Kita-Plätze essenziell, um Entwicklungsdefizite auszugleichen. Allerdings haben die betroffenen Familien oft geringere Chancen, einen Platz zu erhalten, da „gut ausgebildete Mittelschichtseltern“ häufig im Bewerbungsverfahren bevorzugt werden (Schmitz et al., 2023). Eine gängige Begründung für die Ablehnung lautet, die – meist arbeitslose – Mutter könne die Betreuung des Kindes selbst übernehmen. Dabei wird übersehen, dass es bei diesen Kindern nicht nur um Betreuung, sondern um frühkindliche Bildung durch eine umfassende Entwicklungsanregung und um ihr Teilhaberecht geht. Eltern aus benachteiligten Familien sind auch seltener bereit oder in der Lage, den seit über 10 Jahren bestehenden Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einzufordern.
  3. Stigmatisierende Haltungen
    In manchen Einrichtungen und Kontexten erleben sozial benachteiligte Familien – insbesondere alleinerziehende Eltern – diskriminierende oder unsensible Haltungen. Wenn Eltern sich in einer Kita nicht akzeptiert fühlen, werden sie diese Angebote nicht nutzen oder abbrechen. Angemessene Bildungs- und Förderangebote sowie die Anerkennung und der respektvolle Umgang mit Kindern und ihren Eltern sind jedoch ein Grundrecht, das allen Kindern – unabhängig von ihrer Herkunft – im Sinne der Chancengleichheit Unterstützung in ihrer Entwicklung ermöglicht.  
  4. Zu wenig systemübergeifendes Denken und Handeln     
    Die Unterschiedlichkeit der Sozialsysteme und die Vielzahl der Akteure mit jeweils eigenen Zuständigkeiten erschweren es Eltern, aber auch Fachkräften, passgenaue Unterstützung zu finden bzw. anbieten zu können, und führen zu einer unkoordinierten Herangehensweise. Es bedarf eines ganzheitlichen Ansatzes, bei dem Sozialgesetzbuch übergreifend eine zentrale Koordinationsstelle für die Implementierung, Finanzierung und Koordination der Angebote verantwortlich ist. Voraussetzung dafür wären gesetzliche Angleichungen sowie das Verständnis aller Beteiligten als „Verantwortungsgemeinschaft“.
  5. Duale Unterstützung: Eltern und Kind
    Ein Großteil der bestehenden Angebote konzentriert sich auf die Begleitung und Unterstützung der Eltern mit dem Ziel, deren Erziehungskompetenzen für die Entwicklung und Bildung ihrer Kinder zu stärken. Die gleichzeitige Entwicklungsanregung der Kinder durch außerfamiliäre Einrichtungen wie z.B. U3-Kitas darf dabei nicht in den Hintergrund geraten. Vielmehr ist es dringend erforderlich, beide Ansätze gleichwertig umzusetzen und, wo erforderlich, weiter auszubauen.         
  6. Medikalisierung soziogener Entwicklungsauffälligkeiten
    Entwicklungsstörungen, die primär soziogen sind, werden häufig pathologisiert und medizinischen Diagnosen zugeordnet (Fegeler et al., 2024). Dies führt dazu, dass der Problematik durch Verordnungen von Medikamenten oder Heilmitteln wie Logopädie oder Ergotherapie begegnet wird (Medikalisierung). Solche isolierten Maßnahmen können jedoch keine tägliche, kontinuierliche und bedarfsgerechte Entwicklungsanregung ersetzen. Diese Medikalisierung ist ineffizient und verursacht hohe Kosten.
  7. Kinder mit Behinderung
    Kinder mit (drohender) Behinderung – insbesondere aus sozioökonomisch benachteiligten Familien – werden in der beschriebenen Problematik oft übersehen oder ausgeblendet. Es wird hierbei auf einen behinderungsbedingten Mehrbedarf der Kinder hingewiesen, der in den gegebenen Strukturen nicht zu erfüllen sei.  Eine konsequente Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und der Inklusion sind unerlässlich. Fehlende Assistenzen in Kitas oder Barrieren beim Zugang zu Betreuungsangeboten sind Beispiele für systematischen Ausschluss. Die vernetzte Arbeit von Sozialpädiatrischen Zentren und Interdisziplinären Frühförderstellen mit einem barrierefreien frühkindlichen Betreuungs- und Bildungssystem muss gestärkt werden.

Lösungsansätze:

  1. Aufsuchende Betreuung durch Sozialraumlots:innen
    Eine niedrigschwellig erreichbare, aufsuchende Unterstützungsstruktur (evtl. als Sozial-raumlots:innen oder wie auch immer zu benennende feste Einrichtung) könnte helfen, die verschiedenen Hilfe- und Unterstützungsmöglichkeiten und -angebote des Sozialraums für betroffene Familien zu koordinieren und sie damit in ihrer Steuerungskompetenz (Neumann & Renner, 2016) zu stärken. Diese Lots:innen könnten auf Veranlassung von z.B. Pädiater:innen oder Babylots:innen betroffene Familien aktiv aufsuchen, über Unterstützungsangebote informieren bzw. koordinieren, evtl. Kontakte herstellen, sie evtl. zu Terminen begleiten und sich um die Vermittlung von U3-Kita-Plätzen kümmern. Ihre Erreichbarkeit muss einfach sein, eine organisatorische Anbindung an die Frühe-Hilfen-Koordination würde sich anbieten.
  2. Anspruch auf frühkindliche Förderung
    Der bereits bestehende Rechtsanspruch des Kindes ab Vollendung des ersten Lebensjahres auf frühkindliche Förderung in einer Kita oder in Kindertagespflege muss überall in Deutschland verwirklicht werden. Es darf insbesondere keinen Wettbewerb um die zu wenig vorhandenen Plätze geben, bei dem sozial belastete Familien und Eltern, die mit den Zuständigkeiten und Abläufen nicht zurechtkommen, häufig den Kürzeren ziehen. Für jedes Kind, das einen Platz benötigt, muss ein solcher geschaffen werden, der darüber hinaus von guter pädagogischer Qualität ist.
  3. Qualität frühkindlicher Förderung und Vernetzung der Angebote
    Nach wie vor gibt es große Unterschiede zwischen den Bundesländern hinsichtlich zentraler Aspekte der Strukturqualität von Kitas, die teils deutlich hinter dem zurückbleibt, was für eine gute kindliche Entwicklung empfohlen wird (Meiner-Teubner et al., 2023).
    Fatalerweise finden sich gerade Kinder von Eltern mit einfacher Bildung oder Migrationshintergrund häufiger in Kitas mit geringerer Strukturqualität (Stahl et al. 2018).  Repräsentative Informationen zur wichtigeren pädagogischen Prozessqualität sind mittlerweile 13 Jahre alt[2]. Eine Machbarkeitsstudie für ein Monitoring der Prozessqualität weist für nur knapp jede vierte Krippe bzw. Kita in den Gruppen unter 3-jähriger Kinder eine mindestens gute Prozessqualität aus; in den Kindergartengruppen (ab drei Jahre) traf dies für weniger als ein Prozent zu (Kluczniok et al., 2024).  Dies muss Anlass für eine Qualitätsoffensive sein. Wir brauchen ein Bundesqualitätsgesetz Kindertagesbetreuung, indem wissenschaftlich anerkannte Qualitätsstandards verbindlich festgelegt sind und diese politisch legitimiert werden sowie mit den entsprechenden Ressourcen hinterlegt sind. Hierbei ist auch darauf zu achten, dass Kinder mit erhöhtem Unterstützungsbedarf Zugang zu einer sehr guten Qualität finden.
    Um den Förderbedarf junger Kinder rechtzeitig zu erkennen und notwendige Fördermaßnahmen durchzuführen, müssen die unterschiedlichen Hilfesysteme sowohl einzelfallbezogen als auch fallübergreifend vernetzt arbeiten. Insbesondere notwendig ist die Gewährleistung und ausreichende Finanzierung einer systematisch vernetzten Verantwortungsgemeinschaft der Kinder- und Jugendärzt:innen (Früherkennungs-untersuchungen U1 bis U9), Frühen Hilfen, Interdisziplinären Frühförderstellen, Sozialpädiatrischen Zentren, Kindertageseinrichtungen und weiterer Angebote der kommunalen Gesundheitsdienste und Kinder- und Jugendhilfe.
  4. Inklusion
    Kinder mit (drohender) Behinderung und ohne Behinderung aus sozioökonomisch benachteiligten Familien sollten in einem barrierefreien Betreuungs- und Bildungssystem aufwachsen. Teilhabe darf keine Frage des sozialen Status oder der Herkunft sein. Zugangshindernisse und Erschwernisse müssen identifiziert und systemübergreifend abgebaut werden.
  5. Frühe Hilfen
    Frühe Hilfen haben sich als ein erfolgreicher Ansatz für vernetztes und synergetisch effektives Handeln über Systemgrenzen und föderale Ebenen hinweg erwiesen. Sie unterstützen Familien von der Schwangerschaft bis zum dritten Lebensjahr, um Entwicklungsrisiken bei Kindern so früh wie möglich zu erkennen, abzuwenden bzw. zu reduzieren und soziale Ungleichheit im gesunden Aufwachsen zu mindern. Damit leisten sie einen Beitrag zur Verwirklichung von Chancengleichheit bei der gesellschaftlichen Teilhabe von Kindern und Familien und nicht zuletzt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ein großes Problem ist, dass seit 2012 die gesetzlichen Mittel der Bundesstiftung Frühe Hilfen defizitär sind und nie ausreichend angepasst wurden – trotz steigender Lohn- und Infrastrukturkosten sowie zunehmender Bedarfe bei den Familien. Dies stellt die Existenz der Frühen Hilfen mit ihren essenziell notwendigen Angeboten und Leistungen infrage. Die auskömmliche bedarfsgerechte Finanzierung der Frühen Hilfen ist daher unabdingbar.
    Darüber hinaus sind die Altersausweitung auf den gesamten vorschulischen Bereich und in diesem Zusammenhang die weitere Verzahnung mit der Kindertagesbetreuung dringend erforderlich und müssen finanziert werden.

 

Wir appellieren an Sie, diese Herausforderungen in Ihrer familien-, kinder- und gesundheitspolitischen Verantwortung aktiv anzugehen. Gerne stehen wir mit unserer Expertise bereit, um gemeinsam mit Ihnen an finanziell, strukturell und personell tragfähigen Lösungen zu arbeiten, die dann auch auf Dauer Bestand haben: für die Zukunft unserer Gesellschaft und insbesondere für unsere Kinder.

Unterzeichnende (in umgekehrter alphabetischer Reihenfolge)

Prof. Dr. Hans Weiß, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg; Prof.in Dr. Sabine Walper, Deutsches Jugendinstitut, München; Prof. Dr. Armin Sohns, Hochschule Nordhausen; Prof. Dr. Andreas Seidel, Hochschule Nordhausen; Dipl. Volkswirt Raimund Schmid, Wissenschaftsjournalist, Aschaffenburg; Prof. Dr. Heinrich Ricking, Institut für Frühpädagogik, Uni Leipzig; Dr. Andreas Oberle, Sozialpädiatrisches Zentrum, Stuttgart; Prof. Dr. Jörg Maywald, Fachhochschule Potsdam; Dr.in Ulrike Horacek, Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, Dortmund; Regine Hauch, Wissenschaftsjournalistin, Düsseldorf; Dr. Wolfram Hartmann, ehemaliger Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzt*innen, Kreuztal; Dr. Ulrich Fegeler, Deutsches Kinderbulletin, Berlin; Dr.in Maria del Pilar Andrino Garcia, Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) e.V.

Fachliche Beratung

Prof.in Dr. C. Katharina Spieß, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB), Wiesbaden; Dipl.Päd.in Mechthild Paul, Nationales Zentrum Frühe Hilfen, Köln

Literaturverzeichnis:

Antoni, M., Dietrich, H., Jungkunst, M., Matthes, B. & Plicht, H. (2007): Die Schwächsten kamen seltener zum Zug. IAB Kurzbericht, 2/2007, S. 4.

Czock, H. & Wölbing, R. (2011): Gutachten Soziale Prävention – Bilanzierung der sozialen Folgekosten in Nordrhein-Westfalen. Prognos AG, Basel. Im Auftrag der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen.

Fegeler, U., Jäger-Roman, E., Gempp, W., Frölich, N., Horacek, U., Huppertz, H.-I. & Fehr, F. (2024): Prävention und Management soziogener Entwicklungsstörungen in der pädiatrischen Grundversorgung. Monatsschrift Kinderheilkunde, 172, 334–341. doi.org/10.1007/s00112-023-01828-1

Geis-Thöne, W. (2024): 306.000 Betreuungsplätze für unter Dreijährige fehlen. IW-Report, 40/2024. Institut der Deutschen Wirtschaft e.V., Köln.

Greco, S.A., Grasse, R., Müller, K., Peter, S., Pfinder, J. & Schmidt, P. (2014): Wie politische Bildungsarbeit mit bildungsbenachteiligten Jugendlichen gelingen kann – eine Zwischenbilanz. Netzwerk aktivierende Bildungsarbeit – Verstärker (Hrsg.). München.

Grohmann, J. & Porschke, A. (2022): Deutschlandatlas – Wie wir lernen: Über 50.000 Jugendliche verließen im Jahr 2022 die Schule ohne Hauptschulabschluss. Hrsg: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). www.deutschlandatlas.bund.de/DE/Karten/Wie-wir-lernen/169-Schulabgaenger-ohne-Hauptschulabschluss.html

Heckman, J.J. (2006): Skill Formation and the Economics of Investing in Disadvantaged Children. Science, 312(5782), 1900–1902.

Holtmann, A.C., Menze, L. & Solga, H. (2023): Low-achieving school leavers in Germany: who are they and where do they go? In: Education, Competence Development and Career Trajectories. Analysing Data of the National Educational Panel Study (NEPS). Springer VS.

Klatte, M. (2007): Gehirnentwicklung und frühkindliches Lernen. In: Brokmann-Nooren, C., Gereke, I., Kiper, H. & Renneberg, W. (Hrsg.): Bildung und Lernen der Drei- bis Achtjährigen. Verlag Julius Klinkhardt, ISBN 978-3-7815-1533-8, 117–139.

Klemm, K. (2023): Jugendliche ohne Hauptschulabschluss: Demographische Verknappung und qualifikatorische Vergeudung. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh. www.bertelsmann-stiftung.de

Kluczniok, K., Faas, S., Hülsen, K.v., Schneider, M., Fitzner, J., Koch, C. & Aden, H. (2024): Machbarkeitsstudie zur Ansprache und Umsetzung eines bundesweiten Monitorings zur Prozessqualität – Abschlussbericht. Berlin: pädquis. Online: kitaqualitaetsmonitor.de/wp-content/uploads/2024/07/Abschlussbericht_Machbarkeitsstudie_final_5.7.24.pdf.

Lampert, T., Hagen, C. & Heizman, B. (2010): Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Robert Koch-Institut, Berlin.

Meiner-Teubner, C., Schacht, D.D., Klinkhammer, N., Kuger, S., Kalicki, B. & Ackler, S. (Hrsg.) (2023): ERiK Forschungsbericht III. Befunde des indikatorengestützten Monitorings zum KiQuTG. wbv Publikation, Bielefeld. DOI: 10.25656/01:30230

Neumann, A. & Renner, I. (2016): Barrieren für die Inanspruchnahme Früher Hilfen - die Rolle der elterlichen Steuerungskompetenz. Bundesgesundheitsblatt. DOI: 10.1007/s00103-016-2424-6

Noble, K.D., Houston, S.M., Brito, N.-H., Bartsch, H., Kann, E., Kuperman, J.M., Akshoomoff, N., Amaral, D.G., Bloss, C.S., Libiger, O., Schork, N.J., Murray, S.S., Casey, B.J., Chang, L., Ernst, T.M., Frazier, J.A., Gruen, J.R., Kennedy, D.N., Van Zijl, P., Mostofsky, S., Kaufmann, W.E., Kenet, T., Dale, A.M., Jernigan, T.L. & Sowell, E.R. (2015): Family Income, Parental Education and Brain Structure in Children and Adolescents. Nature Neuroscience, 18(5), 773–778. DOI:10.1038/nn.3983

Schlack, H.G. (2020): Entwicklungsaufgaben im Kindesalter: Notwendige Voraussetzungen, Risiken, Präventionsbedarf. In: Fegeler, U., Jäger-Roman, E. & Rodens, K. (Hrsg.): Praxishandbuch der pädiatrischen Grundversorgung. Elsevier-Verlag, München.

Schmitz, S., Spieß, C.K. & Huebener, M. (2023): Weiterhin Ungleichheiten bei der Kita-Nutzung. Größter ungedeckter Bedarf in grundsätzlich benachteiligten Familien. Bevölkerungsforschung Aktuell, 44(2), 3–8.

Senat für Bildung, Jugend und Familie (2021): Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten im Bereich Früher Hilfen – nach Bildungsgrad KID 03. Landeskoordinierungs- und Servicestelle Berlin – Netzwerk Frühe Hilfen.

Shell (2024): 19. Shell Jugendstudie. www.shell.de/about-us/initiatives/shell-youth-study-2024/_jcr_content/root/main/section/simple/call_to_action/links/item0.stream/1730903501282/d8b545435fc2799eb6044e48b4a9fccc80b95b2d/ap-shell-jugendstudie-zusammenfassung-barrierefrei.pdf

Stahl, J.F., Schober, P.S. & Spiess, C.K. (2018): Parental socio-economic status and childcare quality: Early inequalities in educational opportunity? Early Childhood Research Quarterly, 44, 304–317. doi.org/10.1016/j.ecresq.2017.10.011

Unterstützende Verbände und Gesellschaften

Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen (AGF)

Berufsverband der Kinder und Jugendärzt*innen (BVKJ)

Bundeselternverband KITA (BEVKI)

Bundesverband der Familienzentren

Bündnis Kinder- und Jugendgesundheit (BKJ)

Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) e.V. 

Der Kinderschutzbund Bundesverband

Deutsche Gesellschaft für Ambulante Allgemeine Pädiatrie (DGAAP)

Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ)

Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ)

Deutsche Liga für das Kind

Deutsches Kinderhilfswerk e.V.

Fröbel e.V.

Initiative Zukunftsbildung gGmbH

Verband für Interdisziplinäre Frühförderung - Bundesvereinigung (VIFF) e.V.

 


[1] Ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, hat bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder einer Kindertagespflege (§ 24 Abs. 2 SGB VIII).

[2] Entsprechende Daten der NUBBEK-Studie stammen aus 2010/2011.